Wie weit darf Tradition gehen? 

Angra do Heroismo, Terceira, Azoren 

Nachtrag 

Als wir auf Terceira ankamen plauschte Christian beim Einchecken im Hafen noch nett mit dem Hafenmeister und stellte die obligatorische Frage: „Was sollten wir uns hier auf der Insel auf keinen Fall entgehen lassen?“. Der Hafenmeister hatte darauf eine schnelle und leidenschaftliche Antwort, die Christian so nicht erwartet hatte: Stierkämpfe! Wie sich herausstellte, war unser Hafenmeister ein glühender Fan dieses sehr speziellen kulturellen Ereignisses und ausgerechnet der Monat Juli steht auf der Insel ganz im Zeichen der Stierkämpfe. 

Gerade lasen wir noch in den Nachrichten von verletzten Touristen bei der umstrittenen Stierhatz in Pamplona, wo mehrere Kampfstiere durch die engen Straßen der Stadt getrieben und angestachelt werden, bis sie die Stierkampfarena erreichen, wo sie in der Regel im Kampf mit dem Torrero den Tod finden. Bei diesem besonders bei Touristen beliebten Spektakel kann jeder, der sich traut, mit den Stieren mit laufen. Die Leute versuchen dabei den Stier zu berühren oder anzuheizen, was nicht selten zu Verletzungen oder gar Todesfällen führt. Die Stiere laufen frei und sind somit kaum zu kontrollieren, dazu kommen Stress und Angst, was wiederum die Tierschutzorganisationen auf den Plan ruft, die schon seit Jahren vehement gegen diese Praxis protestieren. Es ist nicht zu leugnen, dass Stierkämpfe eine zu Recht äußerst umstrittene Tradition darstellen, insbesondere, wenn sie hauptsächlich zur Bespaßung von Touristen aus aller Welt stattfinden und die Tiere dabei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen schmerzhaften Tod sterben. 

Auf den Azoren und ganz besonders auf Terceira nehmen Stiere eine ganz besondere Rolle ein. Als die Spanier im Jahr 1581 versuchten die Insel zu erobern setzte die Bevölkerung von Angra in der berühmten Schlacht von Salga Kampfstiere ein um die spanischen Truppen zurückzuschlagen. Dieser ungewöhnliche Feldzug gelang und die Insel behielt vorerst ihre Unabhängigkeit von Spanien. Noch heute erinnert eine riesige Statue von 3 Kampfstieren im Stadteil São Sebastião an dieses Ereignis. Stiere und vor allem auch Stierkämpfe sind auf Terceira somit nicht nur ein wichtiger Teil der Kultur, sondern auch tief mit der Identität und Geschichte der Insel verwurzelt. 

Skeptisch war ich trotzdem, aber zugegebenermaßen auch ein wenig neugierig. Terceira ist nicht Pamplona und als wir uns ein wenig genauer über die hiesigen Stierkämpfe informierten, wuchs unsere Neugier noch ein wenig an, denn die Tradition verläuft hier etwas anders und mit deutlich mehr Respekt vor den Tieren, als man es aus Spanien kennt. 

Bei der sogenannten Tourada à Corda werden die Tiere anders als man es aus dem Fernsehen kennt, nicht völlig frei, sondern an langen Stricken durch die Straßen getrieben. Eine Gruppe traditionell gekleideter, starker Männer – die sogenannten Mascados da corda (Seilhüter) – kontrolliert den Strick und sorgt so dafür, dass der Stier nicht ganz unkontrolliert wüten kann. Das Wichtigste ist aber: der Stier wird bei der Hatz weder verletzt noch getötet. Nach dem Kampf kommen die Stiere für mindestens 8 Tage zurück auf die Weide, wo sie sich erholen sollen. Dass die Veranstaltung purer Stress für die Tiere ist bleibt trotz aller Rücksicht allerdings ohne Frage. 

Zwischen Mai und Oktober finden allein auf Terceira etwa 200 Touradas à Corda statt, die meisten davon im Juli. Beinahe jeden Abend verrammeln die Bewohner eines anderen Stadtteils ihre Türen und Fenster im Erdgeschoss mit stabilen Holzbarrieren, laden ihre Freunde und Nachbarn ein und versammeln sich in ausgelassener Stimmung auf sicheren Balkonen oder hinter Barrieren. Aus den offenen Fenstern hängen dabei bunte Decken und Tücher, an Straßenständen werden kalte Getränke und lokale Speisen angeboten. Es herrscht kurz gesagt Volksfeststimmung. 

Die Stiere, meist 3 Stück, werden in traditionellen Holzkisten zum Ort der Tourada gebracht, wo die Seilhüter ihnen nacheinander durch eine Öffnung in der Kiste den Strick umlegen. Meist wird ein überschaubarer Straßenzug für die Veranstaltung ausgewählt und als Kampfgebiet markiert. Auf den Straßen, die aus diesem Gebiet herausführen sind Markierungen aus weißen Linien angebracht. Bis hier hin kommt der Stier, dann wird er von den Seilhütern zurückgehalten. Bleibt man hinter den Linien ist man also sicher – sofern sich das Tier nicht losreißt. 

Ein lauter Raketenschuss kündigt die Freilassung des Stiers aus der Kiste an. Ab dann sollte man auf der Hut sein, falls man nicht hinter einer sicheren Barriere sitzt. Wir waren übrigens während der Hatz auf der Straße, zusammen mit einer beruhigend großen Gruppe Einheimischer, hauptsächlich Männer jeden Alters. Wir hielten es mit dem Herdentrieb: rannte die Gruppe los Richtung weißer Markierungen, dann rannten wir mit. Ansonsten hielten wir uns immer in einigem Abstand vom Stier, allzu wagemutig sollte man hier nicht sein, da ist die Grenze zur Dummheit wohl fließend… 

Als der erste Stier losgelassen wurde, stand er erst mal ein bisschen planlos auf der leergefegten Kreuzung. Schnell kamen aber die ersten Wagemutigen aus der Deckung und reizten den Bullen mit Tüchern oder Regenschirmen. Es scheint zum Erwachsenwerden eines Mannes auf Terceira dazuzugehören, einmal den Stier „bezwungen“ zu haben. Die jungen Männer lieferten sich meist nur kurze Begegnungen mit dem Stier, wobei sich Tier und Mensch umkreisten und sich gegenseitig abwehrten. Jeder mutige Angreifer wurde anschließend mit tosendem Applaus von der Menge gefeiert. Nach ca. 15 Minuten in denen der Stier vor und zurück durch den Straßenzug getrieben wurde, war das Spektakel wieder vorbei und ein weiterer Raketenknall verkündete, dass der Stier wieder sicher in seiner Box verstaut war. Nach einer kurzen Pause wurde das nächste Tier freigelassen und das Spiel ging von vorne los. In der Zwischenzeit konnte man bei Straßenverkäufern allerlei Leckereien von Popcorn über geröstete Maiskolben bis hin zu fettigen Krapfen erwerben oder an einem der Imbissstände ein traditionelles Bifana (Brötchen mit Fleisch) und kaltes Bier genießen. 

Wir waren mit etwas gemischten Gefühlen zu dieser Veranstaltung gegangen und verließen sie auch mit gemischten Gefühlen. Was uns ein wenig mit der Idee des Stierkampfes versöhnte war, dass wir außer uns selbst so gut wie keine Touristen in der Menge entdeckt hatten. Das hier wurde für die Einheimischen veranstaltet und hätte uns der Hafenmeister nicht darauf hingewiesen, dann hätten wir vielleicht sogar gar nichts von dieser Tradition mitbekommen. Auch dass die Stiere nicht ganz frei herumliefen, sondern zumindest durch das Seil ein wenig kontrolliert wurden ließ uns überhaupt so wagemutig zu diesem Fest erscheinen. Einem freilaufenden Kampfstier will ich weder in einer portugiesischen Seitenstraße noch sonst wo begegnen… 

Dass die Stiere nicht körperlich verletzt oder gar getötet wurden konnte nicht ganz den Stress kompensieren, den die sichtlich gehetzten Bullen unleugbar ertragen mussten. Tierfreundlich ist dieses Ereignis nicht, das kann man sich auch nicht schönreden. Man kommt sicher nicht umhin sich die Frage zu stellen, wie weit Traditionen gehen dürfen. Die Tourada à Corda mal gesehen und miterlebt zu haben war in jedem Fall eine neue und auch interessante Erfahrung für uns, auch wenn wir uns dazu entschieden uns keinen weiteren Abend von einem Stier jagen zu lassen, auch wenn die Gelegenheit da gewesen wäre. 

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